
Gegen ‚Gender‘ statt gegen soziale Ungerechtigkeit?
Das Feindbild Gender
„Anti-Gender“ und die Ablehnung geschlechterpolitischer Maßnahmen, die auf die grundgesetzlich verbriefte vollständige Gleichstellung der Geschlechter zielen, machen seit vielen Jahren einen Schwerpunkt im Denken und Handeln extrem rechter Organisationen aus. Neurechte Intellektuelle beteiligen sich mit eigenen Publikationen daran, das Feindbild „Gender“ auszugestalten; extrem rechte Parteien beschäftigen die Länderparlamente mit länderübergreifend abgestimmten Anfragen und Anträgen (Beljan 2024); rechte Vorfeldorganisationen veranstalten Kolloquien über die Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Im Sommer 2024 störten zumeist jugendliche Neonazis CSD-Paraden in allen Teilen Deutschlands (vgl. Mellea/Düker 2024). Mit Plakaten, auf denen zu lesen war: „Es gibt nur zwei Geschlechter“, demonstrierten sie gegen die gelebte Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Lebensweisen, deren Sichtbarkeit im Rahmen der Pride-Paraden gefeiert wird. Die Debatte um geschlechtergerechte Sprache, die zeitgleich in Deutschland tobt, zeigt: „Gender“ ist mitnichten nur für die extreme Rechte ein Kampffeld.
Lebenswelten junger Menschen
All dies geht an Jugendlichen in Deutschland nicht vorbei. Junge Menschen sind vertrauter denn je mit der Sichtbarkeit vielfältiger geschlechtlicher und sexueller Lebensweisen, sowohl lebensweltlich als auch in der Sprache (Calmbach et al. 2024). Aktuelle Jugendstudien zeigen, dass sie etwas mit dem Begriff des „Genderns“ anfangen können und offen dafür sind, dass Menschen ihr Geschlecht nonbinär definieren (ebd.) Dabei führt die Vertrautheit mit der Vielfalt von geschlechtlichen Lebensweisen nicht automatisch zur Befürwortung geschlechtergerechter Sprache. So kommt die Shell-Jugendstudie zum Ergebnis, dass sich Jugendliche mehrheitlich gegen die Verwendung geschlechtergerechter Sprache aussprechen: 42 % der befragten Jugendlichen lehnen „das Gendern“ (völlig oder eher) ab, 22 % sind (völlig oder eher) dafür und 35 % ist das Thema egal (Albert et al. 2024: 119). Hierbei zeigen sich Unterschiede zwischen den Geschlechtern: „33 % der jungen Frauen sprechen sich für das Gendern aus, aber nur 12 % der jungen Männer.“ (ebd.)
Diese Befunde zur Haltung Jugendlicher gegenüber geschlechtergerechter Sprache schließen an eine gesellschaftliche Debatte über die politischen Orientierungen junger Menschen an, die im Jahr 2024 nicht nur in Deutschland geführt wurde. Den Auftakt dieser Debatte bildete ein breit rezipierter Debattenbeitrag der Financial Times, demnach junge Männer immer konservativer, junge Frauen hingegen immer liberaler werden (Burn-Murdoch 2024; kritisch dazu: Herrmann 2024). Später im Jahr verzeichnete die AfD einen deutlichen Stimmzuwachs unter den Erstwähler*innen bei den Wahlen zum Europaparlament, wobei es auch hier einen deutlichen Geschlechterunterschied gab.
Nicht nur die politische Selbstverortung junger Menschen geriet zuletzt in den Fokus der Aufmerksamkeit. Im Jahr 2024 wurden die Ergebnisse mehrerer Jugendstudien publiziert, die nach den Wünschen und Zukunftsvorstellungen von jungen Menschen fragen (Calmbach et al. 2024; Albert et al. 2024). Alle Studien zeigen, dass junge Menschen mit Sorge in die Zukunft schauen. Die Befragten bringen eine große Unsicherheit zum Ausdruck, was die Gestaltung der eigenen Zukunft angeht, und antizipieren Prekarisierungserfahrungen. Sie empfinden sozio-ökonomische Herausforderungen und ein Schwinden der Sicherheitsversprechen, mit denen frühere Generationen noch aufgewachsen sind. Sebastian Friedrich und Nils Schniederjann bringen die unterschiedlichen empirischen Befunde in einen Bezug zueinander: Sie argumentieren, dass es sich bei der Wahlentscheidung von Jungwähler*innen für die AfD um eine „Verlustangst zweiter Ordnung“ handele: „die Angst davor, eine versprochene Zukunft zu verlieren“ (ebd.: 78).
Zwischen dem Versprechen auf Selbstbestimmung und der Zumutung von Selbstvermarktung
In der Tat stehen die verschiedenen Entwicklungen und Befunde, die wir hier angerissen haben, nicht unverbunden nebeneinander. Die geschlechterkonservativen und rechten Affinitäten junger Menschen (und insbesondere junger Männer) haben verschiedene Ursachen – eine davon liegt in der von ihnen zum Ausdruck gebrachten Erfahrung sozio-ökonomischer Verunsicherung. Dass diese Verunsicherung in die Zustimmung zu vielfaltsfeindlichen Politiken umschlägt, steht im Zusammenhang mit den widersprüchlichen Effekten von Kämpfen um die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt im Kapitalismus. Diese Kämpfe sind einerseits eine Errungenschaft sozialer Bewegungen, welche die Anerkennung, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung für Frauen, Schwule und Lesben, Queers etc. forderten und fordern. Was diesen Forderungen zur (partiellen) Durchsetzung verhalf, ist aber Nancy Fraser zufolge nicht nur die politische Überzeugungskraft der Ideen, die ihnen zugrunde liegen (Fraser 2009). Es ist auch ihre ökonomische Verwertbarkeit. Denn die neoliberale Marktlogik, die den zeitgenössischen Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsform bestimmt, lebt davon, den Einzelnen zahlreiche mögliche Handlungs- und Seinsweisen zu suggerieren, unter denen sie ihren Präferenzen und Fähigkeiten entsprechend selbstbestimmt wählen können. Unter Bedingungen jedoch, die von sozioökonomischer Ungleichheit, prekären Beschäftigungsverhältnissen und sozialer Desintegration gekennzeichnet sind, ist diese vermeintliche Wahlfreiheit für viele mehr Zumutung als Zugewinn. Was vom Versprechen auf Selbstbestimmung bleibt, ist allzu oft nur der Zwang zur Vermarktung des Selbst, um die eigene Existenz zu sichern.
Auch Heranwachsende berichten bereits von (tatsächlichen oder antizipierten) Ohnmachtserfahrungen und Zukunftsängsten. Fragen symbolischer Repräsentation begegnen den jungen Menschen vor diesem Hintergrund als neue Form kapitalistischer Vergesellschaftung. Somit sind Fragen um die Diversifizierung von Gesellschaft eng verknüpft mit Prekarisierungserfahrungen. Das Versprechen maximaler Selbstbestimmung erfolgt gleichzeitig mit der Auflösung traditioneller, Orientierung stiftender Strukturen. Zu diesen Strukturen zählt die zweigeschlechtliche heteronormative Geschlechterordnung. Die Bewegung, in die die Geschlechterordnung gekommen ist, mag für einige die langersehnte Emanzipation in der Zukunft bedeuten. Andere lässt sie verunsichert bis besorgt in der Gegenwart zurück.
Der Widerwille gegen progressive Geschlechterpolitiken ist damit auch ein Kampf um Sicherheit und Halt, der einfacher scheint als der Kampf gegen die Ursachen von sozio-ökonomischer Unsicherheit. Sicherheit und Halt scheinen hier insbesondere die traditionelle Geschlechterordnung zu versprechen, mit klaren Geschlechterrollen und den daran geknüpften Erwartungen. Bei den Abwehrkämpfen gegen die Repräsentation geschlechtlicher Vielfalt handelt es sich demnach nicht zuletzt um eine Stellvertreterdebatte, die sich nicht verstehen lässt, ohne auf Fragen sozialer Gerechtigkeit zu schauen, die hier mitverhandelt werden. Hinter den Debatten um geschlechtliche und sexuelle Vielfalt stehen manifeste Verteilungskämpfe, wobei die Verteilung von Anerkennung und Sichtbarkeit gegen die Verteilung materieller Sicherheiten ausgespielt wird.
Ein gefundenes Fressen für die autoritäre und extreme Rechte
Die autoritäre und extreme Rechte kann aus ihrem ideologisch motivierten Kulturkampf gegen das „Gendern“ an lebensweltlich geprägte Verunsicherungen junger Menschen anknüpfen. Dabei erfährt sie Schützenhilfe von Seiten konservativer Politiker*innen, die teils Fehlinformationen in der Debatte aufsitzen, gleichzeitig aber auch ein eigenes Interesse an der Aufrechterhaltung einer strukturell ungleichen Geschlechterordnung haben. Diese antifeministische und queerfeindliche Allianz aus rechts-konservativen und extrem rechten Akteuren leitet die Sorgen junger Menschen, die aus sozio-ökonomischen Verunsicherungen und Zukunftsängsten entsteht, um, und transformiert sie in Wut. In den Fokus dieser Wut geraten all diejenigen, die (vermeintlich) von den Versprechungen des „progressiven Neoliberalismus“ und der diesen begleitenden flexibilisierten Gender-Ordnung profitieren. Den tatsächlichen Ohnmachtserfahrungen junger Menschen, die auf erlebte oder befürchtete sozio-ökonomische Unsicherheiten zurückzuführen sind, begegnet diese Allianz mit dem Versprechen sozio-kultureller Stabilität und Selbstwirksamkeit auf niedrigster Ebene: durch Angebote der ‚Mannwerdung‘ oder Home-Stories über das Glück als ‚Tradwife‘. Dadurch trägt diese antifeministische und queerfeindliche Allianz dazu bei, dringend notwendige Debatten über soziale Gerechtigkeit in einer mehr und mehr ungleichen Gesellschaft weiter zu umschiffen.
Literatur
Albert, M., Quenzel, G., Moll, F. de, Leven, I., McDonnell, S., Rysina, A., Schneekloth, U., & Wolfert, S. (2024). Jugend 2024 – 19. Shell Jugendstudie: Pragmatisch zwischen Verdrossenheit und gelebter Vielfalt (1. Auflage). Julius Beltz GmbH & Co. KG.
Beljan, M. (2024). Alles streichen, alles abschaffen – die wissenschafts- und gleichstellungsfeindliche Politik der Alternative für Deutschland (AfD). Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, 33 (2–2024), 117–120. https://doi.org/10.3224/feminapolitica.v33i2.12
Burn-Murdoch, John (2024). A new global gender divide is emerging. Financial Times vom 26.1.2024. https://www.ft.com/content/29fd9b5c-2f35-41bf-9d4c-994db4e12998 (Zugriff am 4.2.2025).
Calmbach, M., Flaig, B. B., Gaber, R., Gensheimer, T., Möller-Slawinski, H., Schleer, C., & Wisniewski, N. (with Bundeszentrale für Politische Bildung, Deutsche Kinder- und Jugendstiftung, Arbeitsstelle für Jugendseelsorge, Bund der Deutschen Katholischen Jugend, DFL Stiftung, & SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH). (2024). Wie ticken Jugendliche? 2024: Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung.
Fraser, N. (2009). Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte. Blätter für deutsche und internationale Politik, 8, 43–57.
Friedrich, Sebastian & Schniederjann, Nils. (2024). Unsichere Zukunft, autoritäre Antwort. Wie die AfD bei der Jugend punktet. Blätter für deutsche und internationale Politik, 9, 73–78.
Herrmann, Sebastian (2024). Das politische Geschlecht. Süddeutsche Zeitung vom 19.2.2024, Nr. 41, 12.
Mellea, Jessa & Düker, Joe (2024). Eine neue Generation von Neonazis: Mobilisierungen gegen CSD-Veranstaltungen im Jahr 2024 durch rechtsextreme Jugendgruppen im Internet. Research Paper des CeMAS – Center für Monitoring, Analyse und Strategie. https://cemas.io/publikationen/neue-generation-neonazis-mobilisierung-gegen-csd-veranstaltungen/cemas_-_2024-11_-_research_paper_-_neue_generation_neonazis.pdf (Zugriff am 4.2.2025).