Neue Herausforderungen, alte Erzählungen. Vom Wandel der Geschlechterverhältnisse und rechten Deutungen
Die Geschlechterordnung im 20. und 21. Jahrhundert ist in Bewegung. Es werden Strukturen aufgebrochen, die lange Zeit als natürlich und unveränderlich galten. Die im Grundgesetz verankerte „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ schreitet mehr und mehr voran, gleichzeitig diversifizieren sich einst starre Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Was ein Mann ist und was seine Rolle in der Gesellschaft ausmacht, hat sich verändert – und das gilt genauso für Frauen und ihre Rolle. Hinzu kommt das Hinterfragen der Zweigeschlechtlichkeit als solcher: Mit dem Selbstbestimmungsgesetz und dem Gesetz zur Dritten Option erkennt der Gesetzgeber nun auch rechtlich an, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt.
Neue Leitbilder
Mit dem Aufbrechen einst starrer Strukturen einher gehen auch neue gesellschaftliche Leitbilder von Familie, von Mutterschaft und Vaterschaft (Schneider et al., 2015). In diesen Leitbildern findet sich die Erwartung, dass Mütter und Väter sowohl erfolgreich im Job sind als auch Verantwortung übernehmen für Kinder und andere zu pflegende Angehörige. Die verschiedenen Lebensbereiche, in denen das alles stattfindet, sollen spielerisch, selbstverständlich und erfolgreich vereinbart werden (vgl. etwa Tichy & Krüger-Kirn, 2019): Erwerbsarbeit und Familie, Partnerschaft und Self-care – die Bilder gutaussehender Frauen, die auf dem einen Arm ein Kind und in der anderen Hand ein Laptop halten, sind wahrscheinlich ebenso bekannt wie die Bilder von Männern, die ausgelassen mit ihrem Kind wahlweise durch das Wohnzimmer oder über eine Wiese toben und dabei aussehen, als hätten sie das letzte Meeting gerade erst verlassen.
Widersprüche
In diesen Idealbildern spiegeln sich die Ergebnisse politischer Kämpfe für die Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben und für die Beteiligung von Männern an Care-Arbeit. Vati gehört nicht mehr nur samstags dem Kind, und arbeitende Mütter gelten nicht mehr als Rabenmütter. In wissenschaftlichen Analysen werden die neuen Leitbilder gleichzeitig als Zumutungen beschrieben (vgl. etwa Auth et al., 2015), denn die Bedingungen, diesen entsprechen zu können, sind nicht einfach: Die Kinderbetreuungsquote entspricht nicht dem Bedarf; in vielen Unternehmen gibt es nach wie vor keine Anerkennung für Väter, die über die zwei „Vätermonate“ hinaus Elternzeit in Anspruch nehmen wollen; vor allem Mütter befinden sich häufig in den prekären Randbereichen des Arbeitsmarktes, die mitnichten die individuelle Selbstverwirklichung als erfolgreiche, ausgeglichene und gut aussehende Working Mom erlauben. Folglich geraten auch die Sozial-, Familien- und Arbeitsmarktpolitiken in die Kritik: Folgen sie doch häufig stärker wirtschaftlichen und demographischen Zielsetzungen als jenen von sozialem Ausgleich oder Geschlechtergerechtigkeit.
Die Modernisierung der Geschlechterordnung schafft damit Chancen und neue Freiheiten – und stellt die Individuen zugleich vor Herausforderungen, das Mehr an Bereichen im eigenen Leben unter einen Hut zu bekommen. Aufgrund des Fehlens an gesellschaftlichen Lösungen stehen Frauen und Männer diesen Herausforderungen auf lebensweltlicher Ebene häufig individualisiert gegenüber.
Rechte Erzählungen
Hier knüpfen extrem rechte Erzählungen einer ‚guten alten Zeit‘ an, in der starre Geschlechterrollen Frauen und Männer zwar an ihren jeweiligen Platz in der Gesellschaft verwiesen, sie aber nicht mit Erwartungen überluden. Männer, so heißt es, fanden Anerkennung dafür, die Familie zu ernähren, und Frauen mussten sich einzig und allein im trauten Heim verwirklichen. Derlei Erzählungen kommen schon längst nicht mehr altbacken und gestrig daher: Sogenannte „Tradwives“ liefern Bilder für ein Gesellschaftsmodell, in dem junge Männer und Frauen sich nicht fragen müssen, welches ihre Rolle ist, sondern sich in der ihnen zugewiesenen Rolle finden und verwirklichen. Diese Bilder zeigen junge Frauen in traditionellen Rollen, die glücklich über die Erfüllung ihres Lebens als Ehefrau und Mutter berichten (vgl. etwa Rösch, 2023).
Ergänzt werden diese Bilder durch eine extrem rechte Kritik an den Bedingungen von Vereinbarkeit (vgl. Lang & Reusch, 2022). Extrem rechte Politikerinnen und Aktivistinnen beschreiben es offen als Zumutung, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Sie beklagen einen Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung für die von ihnen geleistete Sorgearbeit.
Alte Narrative für neue Herausforderungen
Ganz weit entfernt sind sie dabei nicht von den Problemen, welche Frauen und andere Menschen in Sorgeverantwortung benennen: Das Nebeneinander von Familie und Beruf stellt eine kontinuierliche Herausforderung für all jene dar, die beides miteinander vereinbaren müssen (vgl. etwa Schutzbach, 2020). Mit ausreichendem Jahreseinkommen können sich Familien hier Entlastung schaffen, indem Babysitter, Haushaltshilfen oder andere, häufig prekär bezahlte Unterstützung eingekauft wird. Die sprichwörtliche Frau an der Aldi-Kasse hat diese Möglichkeit nicht; sie repräsentiert jene Sorgen, die von rechten Politiker:innen in populistischer Manier als Sorgen „der kleinen Leute“ benannt werden.
Rechte Frauen adressieren lebensweltliche Probleme, die in Zusammenhang stehen mit der Gleichzeitigkeit von Wandel und Beharrlichkeit der Geschlechterordnung (vgl. Lang, 2022; Reusch, 2022). Ausdruck dessen ist es u.a., dass Frauen zwar am Arbeitsmarkt teilhaben, die Verantwortung für die Sorge um Kinder, Ältere und andere Sorgebedürftige jedoch nach wie vor großteils bei ihnen liegt – und damit auch die Herausforderung, Erwerbsarbeit und Familie miteinander in Einklang zu bringen, vor allem für Frauen relevant ist (BMBFSJ, 2021). Die extreme Rechte stellt dem Dilemma der Vereinbarkeit Narrative über eine gute alte Zeit gegenüber, in der jene Probleme noch nicht existiert hätten.
Das Forschungsvorhaben
In verschiedenen Studien wurde zuletzt aufgezeigt, dass extrem rechte Parteien insbesondere unter jungen Menschen gestiegene Zustimmungswerte erhalten (ex. Schnetzer, 2024). Im Teilprojekt an der Universität Gießen erforschen wir derzeit, ob extrem rechte Angebote und Deutungen im Bereich der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Familienpolitik bei jungen Berufseinsteiger*innen auf Resonanz treffen und somit für diese Zustimmungswerte von Bedeutung sind. Der Fokus der Untersuchung liegt dabei nicht auf der Ideologieproduktion der extremen Rechten, sondern auf den (potenziellen) Adressat*innen. Die Teilstudie macht die Bedürfnisse junger Menschen mit Blick auf die Vereinbarkeit der unterschiedlichen Lebensbereiche zum Ausgangspunkt der Forschung und betrachtet die extrem rechten Deutungsangebote als Versuch einer sich modernisierenden europäischen Rechten, politische Angebote für krisenhafte gesellschaftliche Verhältnisse zu unterbreiten. Eine politische Antwort auf die extreme Rechte macht es erforderlich, diese Verhältnisse ebenso in den Blick zu nehmen wie die Ideologieproduktion der extremen Rechten, die hierauf reagiert.
Literatur
Auth, D., Klenner, C., & Leitner, S. (2015). Neue Sorgekonflikte: Die Zumutungen des Adult worker model (S. Völker & M. Amacker, Hrsg.; S. 42–58). Beltz Juventa.
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.). (2021). Neunter Familienbericht. Eltern sein in Deutschland—Ansprüche, Anforderungen und Angebote bei wachsender Vielfalt. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/179392/195baf88f8c3ac7134347d2e19f1cdc0/neunter-familienbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf
Lang, J. (2022). Weiblichkeit in den Selbstinszenierungen von Protagonistinnen der autoritären und extremen Rechten. Zeitschrift Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit, 7/1 (Geschlechtersensible politische Bildung. Das rechtsextreme Geschlechterbild), 8–22.
Lang, J., & Reusch, M. (2022). Kinder, Küche, Politik? Vereinbarkeitsfragen in der autoritären und extremen Rechten. In M. Fröhlich, R. Schütz, & K. Wolf (Hrsg.), Politiken der Reproduktion. Umkämpfte Forschungsperspektiven und Praxisfelder (S. 285–277). transcript.
Reusch, M. (2022). Mutterschaft als Trägerthema für völkische Ideologie. Thematisierungen und Inszenierungen von Mutterschaft in der extremen Rechten. Zeitschrift Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit, 7(1) (Geschlechtersensible politische Bildung. Das rechtsextreme Geschlechterbild), 23–37.
Rösch, V. (2023). Heimatromantik und rechter Lifestyle: Die rechte Influencerin zwischen Self-Branding und ideologischem Traditionalismus. GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 15(2), 25–40.
Schneider, N. F., Diabate, S., & Ruckdeschel, K. (2015). Familienleitbilder in Deutschland: Kulturelle Vorstellungen zu Partnerschaft, Elternschaft und Familienleben. B. Budrich.
Schnetzer, Simon, Hampel, Kilian, & Hurrelmann, Klaus. (2024). Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024: Verantwortung für die Zukunft? Ja, aber“. Datajockey Verlag.
Schutzbach, F. (2021). Die erschöpfte Frau. Blätter für deutsche und internationale Politik, 11, 111–120.
Tichy, L. Z., & Krüger-Kirn, H. (2019). The „Do-It-All-Mother“—Discursive Strategies and Post-Feminist Alliances in Parenting Magazines. Open Gender Journal, 1–14.